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Titel
Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900–1945


Autor(en)
Kury, Patrick
Reihe
Veröffentlichung des Archivs für Zeitgeschichte des Instituts für Geschichte der ETH Zürich 4
Erschienen
Zürich 2003: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Aram Mattioli, Historisches Seminar der Universität Luzern

Patrick Kurys wichtige Dissertation steht im Zeichen einer brisanten Kontinuitätsthese. «Aus der Perspektive der Überfremdungsbekämpfung gesehen», wird in ihrem Resümee festgehalten, «ist die schweizerische Flüchtlingspolitik der Jahre 1939–1945 nicht eine einmalige Entgleisung, wie gerne behauptet wird. Sie ist vielmehr die logische, wenn auch nicht die einzig mögliche Konsequenz einer auf diskriminierenden Diskursen basierenden Abwehrideologie.» Patrick Kury ist zwar nicht der erste Historiker, der die schweizerische Flüchtlingspolitik der dunklen Jahre vor dem Hintergrund längerfristig wirkender Dispositive interpretiert. Doch vom Zürcher Historiker Stefan Mächler abgesehen hat noch niemand vor ihm mit der gleichen Stringenz die diskursiven Muster freigelegt, die die schweizerische Ausländerpolitik seit dem Ende des Ersten Weltkrieges für mehrere Jahrzehnte geprägt haben.

Ganz im Gegensatz zu der in den Sonntagsreden beschworenen «humanitären Tradition» zielte diese Politik, so die Kernthese der Studie, auf eine nationalistisch motivierte Überfremdungsbekämpfung, die von einem sozialdarwinistischen Auslese-Gedanken inspiriert und nicht frei von antisemitischen Denkfiguren war. Ernst Delaquis, der neue Chef der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, trat im angespannten Klima nach dem Generalstreik mit der bald mehrheitsfähigen Forderung auf: «Wir müssen den fremden Ankömmling auf Herz und Nieren prüfen können. Reiht er sich ein in unser politisches, wirtschaftliches, soziales Staatsgefüge? Ist er hygienisch akzeptabel? Überschreitet seine ethnische Struktur das Mass zulässiger Inadäquanz?» Als in der Schweiz unerwünschte Ausländer bezeichnete der einflussreiche Chefbeamte nicht nur Bolschewisten und Straftäter, sondern auch Arbeitslose, Mittellose, «gemeingefährliche Kranke», «Schieber», «Schnorrer» und «Wucherer». Die neue Unterscheidung zwischen «erwünschten» und «unerwünschten» Ausländern markierte einen Bruch mit der liberalen Einwanderungspolitik der Vorkriegsjahre.

Vor dem Ersten Weltkrieg war es das Ziel fast aller Experten, die Ausländer mittels erleichterter Einbürgerung zu guten Schweizern zu machen. «Assimilation» durch Staatsbürgerschaft hiess die Losung. Im Kontext dieser Debatte tauchte um 1900 die genuin schweizerische Wortschöpfung «Überfremdung» erstmals auf. Bedingt durch Arbeitsmigration erreichte der Ausländeranteil an der schweizerischen Gesamtbevölkerung am Vorabend des Ersten Weltkrieges mit über 15 Prozent den höchsten Wert während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei blieb es nicht. Bis 1939 sank der Ausländeranteil auf 5,5 Prozent. Zu monokausal wird diese Entwicklung mit dem Wirken der 1917 vom Bundesrat ins Leben gerufenen Eidgenössischen Zentralstelle für die Fremdenpolizei erklärt – eine Engführung, die aus dem gewählten diskursanalytischen Ansatz resultiert.

Im Zentrum der Analysen steht die Tätigkeit einer kleinen Gruppe von Beamten in und um diese neue Amtsstelle. Verwaltungsexperten wie Heinrich Rothmund und Max Ruth gewannen einen entscheidenden Anteil an der Neuformulierung der schweizerischen Ausländerpolitik, weil es ihnen gelang, das öffentliche Reden über Fremde zu prägen. Aufgeschreckt durch die durch den Ersten Weltkrieg bewirkten Wirren gewannen in der Eidgenössischen Fremdenpolizei «protektionistische » Vorstellungen zunehmend Oberhand. Ausgehend von diesem Diskurszentrum prägten die in Grundlagenpapieren formulierten Abwehrkonzepte mehr und mehr das Handeln der Politiker. Wie viele andere Staaten in Europa auch schränkte die Schweiz die Freizügigkeit im internationalen Personenverkehr ein, verschärfte die Einbürgerungsbestimmungen und erschwerte die Niederlassung für Ausländer. Mit dem 1931 verabschiedeten Gesetz über Niederlassung und Aufenthalt der Ausländer verfügte das Land erstmals über ein parlamentarisch sanktioniertes Instrument im Kampf gegen die «Überfremdung».

Doch die Abwehrpraktiken zielten nicht so sehr auf die zahlenmässig grösste Gruppe der Zugewanderten: auf die Italiener, die in den Fabriken und Grossbaustellen als billige Arbeitskräfte gebraucht wurden. Seit den frühen zwanziger Jahren richtete sich die restriktive Politik überdurchschnittlich stark gegen jüdische Emigranten aus Osteuropa. Die Überfremdungswächter stilisierten die «Ostjuden» pauschal zum Inbegriff des ganz Anderen, die das «Schweizertum» in seiner ethnischen Homogenität bedrohen würden. An dieser Haltung änderte auch der beispiellose Staatsantisemitismus im «Dritten Reich» nichts, der Zehntausende von an Leib und Leben bedrohten Juden in die Zwangsemigration trieb. Die einsetzende Massenflucht nahm die Eidgenössische Fremdenpolizei nicht als humanitäre Katastrophe wahr. In ihren Augen gefährdete sie vor allem das schweizerische Projekt der Überfremdungsbekämpfung. Nach der durch die Annexion Österreichs ausgelösten jüdischen Fluchtbewegung liess Heinrich Rothmund Bundesrat Johannes Baumann in schöner Folgerichtigkeit wissen: «Wir haben seit dem Bestehen der Fremdenpolizei eine klare Stellung eingehalten. Die Juden galten im Verein mit den anderen Ausländern als Überfremdungsfaktor. Es ist uns bis heute gelungen, durch systematische und vorsichtige Arbeit die Verjudung der
Schweiz zu verhindern.»

Kurz, die restriktive Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg resultierte nach Patrick Kury letztlich aus einem antisemitisch grundierten Abwehrdispositiv, das in den Berner Amtsstuben bereits in den frühen zwanziger Jahren konzipiert worden war. Die solid gearbeitete Studie mit ihren reflektierten Analysen bestätigt damit eine zentrale Erkenntnis der jüngeren Zeitgeschichtsforschung. Aus wissenschaftlicher Sicht ist zu bedauern, dass die Studie mit dem Jahr 1945 abbricht. Zu gerne hätte man gewusst, ob und inwiefern James Schwarzenbachs Überfremdungsbewegung auf die alten Diskursmuster zurückgriff oder ob diese in der Schweiz des «Wirtschaftswunders» gänzlich neue schuf.

Zitierweise:
Aram Mattioli: Rezension zu: Patrick Kury: Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900–1945, Zürich, Chronos Verlag, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 96-98.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 1, 2004, S. 96-98.

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